Nepal & Kolkata 2019 blog
25. Oktober
miṣṭi bṙṣṭi Kolkata blues
Übersetzt
bedeutet der Titel des heutigen Tages "süßer Regen Kolkata blues",
etwas griffiger und durchaus albumtauglich wohl eher "sweet rain
Kolkata blues". Der melancholische Landregen des gestrigen Tages ging
in Schauer über, trist blieb es aber trotzdem. Und der blues ist ja
vielfältig. Auf dem Weg in die Annada Neogi Lane dachte ich über unsere
Fotografie nach, Ratri bevorzugt ihre FZ1000 mit stark
vergrößerndem Objektiv für Natur- und unauffällige Szenenaufnahmen. Ich
bevorzuge meine LX100 mit größerem Weitwinkel und starkem Makro,
außerdem mag ich die klassische Optik, die ich dadurch unterstreiche,
dass ich fast nur den Sucher statt des Displays benutze. Szenen und
Portraits hatte ich mir vorgenommen, am liebsten portraitiere ich
Schafe aber die gibt es hier wenig, und ein guter Fotograf für Menschen
bin ich nicht. Wenn wir mit Isa unterwegs waren hat sie uns gezeigt wie
das geht, ein gewinnendes Lächeln, eine kurze Absicherung, dass ein
Portrait erlaubt ist, ein Lächeln zurück, klick. Wunderbare Bilder.
Was
erwarten die Betrachtenden eigentlich von solchen Portraits und Szenen
in Indien? Die meisten antworten "fröhliche Farben". Auch häufig hört
man, dass die Menschen trotz ihrer Lebenssituation Freude ausstrahlen,
und noch häufiger ist von Würde die Rede. Warum erwarten und erhoffen
wir das und was fasziniert uns daran so? Ich denke maßgeblich zwei
Dinge. Zum Ersten ist es für uns selbst undenkbar so zu erscheinen, mit
einer handvoll Reis auf einer dünnen Decke auf der Straße zu leben und
dabei farbenfroh, freud- und würdevoll auszusehen. Zum Zweiten erteilt
uns dieser Eindruck Absolution, diese Menschen sind scheinbar trotz
ihrer Lebensumstände zufrieden, kommen mit dem zurecht, was sie haben,
wir sind raus aus dem Spiel und der Verantwortung, wir haben unsere
Welt, die eben ihre, alles ist gut. Vielleicht ist da sogar zum Dritten
eine stille Sehnsucht, ein Neid, der verklärt romantische Glaube, dass
Verzicht und Entsagung, ganz gleich ob freiwillig oder nicht, zum
wahren Glück führt und von unseren materiellen Sorgen der
Konsumgesellschaft befreit, die zu zügeln wir selber nicht in der Lage
sind.
Da ich wie gesagt, Schafe und andere Tiere einmal
ausgenommen, ein schlechter Portraitfotograf bin, und die geschilderten
Beweggründe für die Erwartung an das Endprodukt auch nicht teile,
bleiben die besagten, beabsichtigten Fotografien aus. Farbenprächtige,
gepflegte Sadhus hätte es übrigens genug gegeben, Shankar nannte diese
"commercial sadhus", also Schauspieler, die für Geld das Fotomotiv
abgeben. Echte Sadhus sehen weder so aus noch lassen sie sich gerne
fotografieren.
Der zweite Nachmittag im Schoße der Familie
verlief dann genau so herzlich und kulinarisch bereichernd wie der
gestrige, wir wurden von Pali und Dua mit Aubergine, Tarka-Dahl (Linsen
mit Ei, mein Lieblings-Dahl), Blumenkohl-Tarkari, Blumenkohl-Pakora,
Shrimps-Curry, Ei, Salat und frischen Roti verwöhnt.
Wie
immer wenn wir zu Besuch sind und unsere so ähnlichen aber doch so
verschiedenen Leben vergleichen und gegenseitig erklären drängen sich
mir schwere Fragen auf. Was erwarten die drei von ihrem Leben? Was sind
die Perspektiven? Was für Ziele haben sie? Im nächsten Schritt versuche
ich zu ergründen was ich auf diese Fragen antworten würde, falls sie
mir gestellt würden, einmal abgesehen davon, dass unsere gemeinsame
sprachliche Basis für diese Art von Konversation leider nicht
ausreicht. Und dann lande ich an der Stelle, an der ich darüber
nachdenke, ob diese Fragen für Menschen, deren Alltag und Leben so
stark vom Glauben oder sagen wir besser von Spititualität durchsetzt
sind, überhaupt legitim sind, irgendeinen Sinn ergeben, ob sie jemals
gestellt wurden.
Und schließlich folgt zum wiederholten Mal der
Abschied, Sagar begleitet uns noch ein Stück Richtung Metro-Station,
bleibt irgendwann stehen und drückt uns, wir fahren wieder in unsere
Welt und spielen noch etwas den miṣṭi bṙṣṭi Kolkata blues.