10.12. 2014
Das habe ich nun von dieser Frage "Ist es gut, dass Gruppen junger
Inderinnen im Biergarten des Fairlawn sitzen und Bier trinken?". Die
ganze Nacht, sofern das im Schlaf möglich ist, und auch den ganzen Tag
kaue ich nun auf dieser Frage herum.
Pirsig unterteilt in anorganische, biologische, soziale und
intellektuelle Wertstrukturen, die abgeschlossene statitische Systeme
bilden, die untereinander in einer evolutionären Verbindung stehen.
Eine Weiterentwicklung ist dabei gut und wird durch dynamische Qualität bewirkt. Das Verbessern der Struktur durch die dynamische Qualität führt also zu einer stabileren statischen Qualität.
Der rein objektive Vorgang in einem Biergarten zu sitzen, Bier zu
trinken und zu rauchen besitzt ausschließlich biologische Qualität,
etwas weniger verkopft ausgedrückt es macht den Damen einfach Spaß.
Damit liefert es aber keine soziale oder intellektuelle Qualität,
bringt also weder die Gesellschaft noch den Geist voran.
Aus der westlichen Sicht der heutigen Zeit würde auf die Frage, ob es gut
sei, die klare Antwort "ja" gegeben werden. Als Begründung folgte das
Totschlagargument "Freiheit". Bei genauer Betrachtung ein wertloser
Allgemeinplatz. Freiheit ist immer ein Wertbegriff in einem
Geltungsraum, in einem gesellschaftlichen Kontext. Was wäre, wenn die
jungen Damen in zwei weiteren Jahren vor dem Fairlawn auf dem
Bürgersteig säßen und Haschisch rauchten? Wäre das noch immer gut oder sogar besser, weil noch freier,
das heißt weg von den Konventionen? Man sieht, unser Begriff von
Freiheit ist nicht gleichzusetzen mit "tun und lassen was wir wollen".
Rosa Luxemburg schrieb einst den berühmten Satz "Freiheit ist immer
Freiheit der Andersdenkenden". Dieser wird heute anscheinend von vielen
falsch interpretiert, denn er sollte nicht bedeuten, den Begriff
unserer Freiheit den Andersdenkenden überzustülpen. Unsere Freiheit
ist lediglich ein Wertebegriff, den wir im Klassenzimmer gegen
Kopftücher und auch am Hindukusch verteidigen. Wir finden Gekreuzigte
in Klassenzimmern nun mal netter und sehen gerne Frauen ohne Kopftuch
oder gar Burka Alkohol trinken. Mit dem Argument der Freiheit
werden wir unsere Werte den Andersdenkenden schon einprügeln. Wir
ragieren auf das in unseren Augen Unfreie mit Verboten im Namen der
Freiheit. Freiheit durch Verbote,
bitte auf der Zunge zergehen lassen! Den Sachverhalt einfach zuzugeben
wäre weniger scheinheilig und würde es für alle Beteiligten
erträglicher machen.
Wie man sieht taugt die Freiheit
also keinesfalls um meine Frage zu beantworten. Interessanter Weise
widmet auch Pirsig einen kurzen Abschnitt diesem Begriff und schreibt,
dass er meist misverstanden wurde und nichts anderes sei als dynamische Qualität. Da sind wir also wieder am Anfang.
Hätte das Verhalten im Garten des Fairlawn Bier zu trinken außer
biologischer auch soziale Qualität spielte sich in dieser Wertstruktur
ein Konflikt zwischen statischen und dynamischen Werten ab, also ein
klassisches Aufbegehren gegen oder das Aussetzen existierender Regeln
und Konventionen. Die Wirkung dessen ist meist erst später zu bewerten,
das ist das Problem. Hätte aber das Verhalten auch intellektuelle
Qualität, förderte also den geistigen Austausch, brächte neue Ideen
hervor, befände sich diese dynamische Qualität klar in einer
evolutionär höheren Wertstruktur und wäre damit gemäß Pirsig "gut". Es
ist besser, dass eine Idee eine Gesellschaft zerstört, als das eine
Gesellschaft eine Idee zerstört.
Ich weiß es also nicht, die Frage "Ist es gut, dass Gruppen junger
Inderinnen im Biergarten des Fairlawn sitzen und Bier trinken?" kann,
zumindest von mir, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantwortet
werden. Das kann vier Gründe haben. Erstens, ich habe das Buch nicht
verstanden bzw. bin nicht in der Lage die Metaphysik der Qualität
anzuwenden. Zweitens, man kann es zu diesem Zeitpunkt nicht beurteilen,
da man die Wirkung der Handlung nicht kennt. Das entspräche aber eher
eine klassischen Subjekt-Objekt-Metaphysik und etwas erst als gut zu
befinden, wenn man weiß, dass es gut ist, macht ebenfalls wenig Sinn.
Drittens, ich weiß nicht genug über die Biertrinkerinnen, was haben sie
geredet, was bringt diese Zusammenkunft hervor, war es nur albernes
Tratschen oder wurden großartige, gesellschaftliche Neuerungen
diskutiert? Viertens, die ganze Metaphysik der Qualität ist ein
Hirngespinst und die Moral vielleicht ebenfalls.
Ich darf also weiter nachdenken und kauen.
Jetzt sehe ich zwei Reaktionen auf diesen Text vor mir. Ein
verständnisloses Kopfschütteln und der Kommentar "Jetzt ist er
übergeschnappt, dass musste ja passieren, wenn er vier Wochen in Indien
rumhängt.". Und ein wissendes Nicken und die Aussage "Ja, Indien
verändert, nachher ist nichts mehr wie vorher.".
Beides ist falsch.
Ich Reise, also bin ich. Zum Nachdenken brauche ich zwei Dinge, Zeit und Muße. Muße ist etwas, das ich lieber als äußere Umstände bezeichnen würde. Und beides passt beim Reisen, ich habe Zeit und die äußeren Umstände
sind entsprechend. Was ich sehe, höre, rieche, schmecke und taste
stimuliert zum Denken. Mich zumindest. Reizüberflutung, in Kolkata
durchaus vorstellbar, kann dabei soar zum "Rückzug der Sinne" führen,
zumindest für begrenzte Zeit.
Pirsigs erstes Buch "Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten" habe ich
2006 in Marokko gelesen. "Lila" kaufte ich dann gleich im Anschluss
aber ich habe mich daran verschluckt. Danach wanderte es in die
"Pfui-Ecke" der Bibliothek, auf den Stapel zu lesende Bücher, die
schwer auf dem bibliophilen Gewissen lasten. Jetzt war es einfach dran,
auch wegen der passenden Größe und des passenden Gewichts für eine
Flugreise. Ganz pragmatische Gründe.
Mit Indien im Speziellen hat das alles nichts zu tun. Ich gebe
allerdings zu, dass es für mich wohl keinen passenderen Ort und keine
passendere Zeit geben konnte, um es zu lesen. Denn Indien im Jahr 2014
ist de facto der Inbegriff für dynamische Qualität in Interaktion mit statischer Qualität.
Der heutige Tag? Wir suchten zunächst einen Messer-Laden etwas südlich
der Innenstadt, den wir nicht fanden, noch nicht einmal die Straße.
Irgendetwas war falsch, Google maps, die Straßenschilder, oder beides.
Gegen Mittag fuhren wir zu Ratris Familie. Alle sind wohlauf, Details
werden wir nach unserer Rückkehr denen erzählen, die es interessiert
und etwas angeht. Palis Essen war wie immer fantastisch, vor allem das
Hühnchen-Dal mit Ei und die Shrimps in Kokos (was für ein Zufall, sie
wusste ja nicht, dass wir in Kerala waren). Auch den leckeren Fisch mit
der definierten einen Gräte gab es wieder. Gegen 18Uhr waren wir wieder
im Fairlawn und ich musste meine Gedanken der letzten 24 Stunden zu
Papier bzw. zu bits und bytes bringen. Immerhin nur 24 Stunden, Robert
M. Pirsig hat an "Lila" über 20 Jahre gearbeitet, es besteht also noch
Hoffnung.
PS.: Wer den heutigen Text für abgedreht und unlesbar hält mag Recht haben. Der blog endet aber in zwei Tagen.